Kolumne Dr. Bernhard Jünemann | Prinzipienlose Hoffnung
„Prinzip Hoffnung" ist das Hauptwerk des deutschen Philosophen Ernst Bloch, das er im amerikanischen Exil zwischen Ende der dreißiger und vierziger Jahre schrieb. Darin entwickelt er eine konkrete Utopie auf ein besseres Leben. Das Prinzip Hoffnung wurde so zu einem geflügelten Wort.
Hoffnung, ganz ohne große Utopie, ist auch ein wichtiger Antriebsfaktor für die Börse. Darauf habe ich Anfang des Jahres in meiner Kolumne hingewiesen. Anlegende formulieren Erwartungen, aufgrund derer sie sich positionieren, und sie hoffen, dass sich diese erfüllen. Die Hoffnung kann sich auf steigende, aber auch auf fallende Kurse richten, je nachdem wie Anlegende sich aufgestellt haben. Manche Hoffnungen erscheinen gut begründet, sind also realistisch, andere wiederum unrealistisch, was aber nicht heißt, dass sie nicht doch aufgehen können. Wo Millionen an den Börsen agieren, gibt es bekanntlich immer wieder Überraschungen. Hoffnungen sollten deshalb ein gutes Stück prinzipienlos sein.
Analysiert man die Hoffnungen, die sich auf das erste Halbjahr der Börsen in den USA, aber auch in Europa beziehen, so waren die Erwartungen ziemlich gemischt. Hohe Risiken wurden vielfach betont. Zum Teil haben sie sich materialisiert, wenn man an die Ankündigung von Präsident Donald Trump Anfang April zu umfassenden Strafzöllen denkt. Es gab heftige Verluste, die sich aber wieder abbauten, als Trump zurückruderte und Drohungen als Auftakt zu Verhandlungen über Handelsabkommen darstellte. Der S&P 500 schaffte so im ersten Halbjahr fünf Prozent, der Nasdaq Composite immerhin noch 4,5 Prozent – alles in allem angesichts der Verwerfungen ein respektables Ergebnis.
Überraschend stark präsentierte sich dagegen das alte Europa, dessen Konjunktur im Vergleich zu den USA lahmte. Der EURO STOXX 50 schaffte 8,9 Prozent, der DAX sogar phänomenale 20,1 Prozent.
Fazit: Die Hoffnungen vom Jahresanfang wurden übertroffen. Aber so ist das immer wieder an der Börse. Hoffnungen gehen in Erfüllung oder nicht, mal läuft es besser, mal schlechter als erwartet. Hinzu kommen wieder positive und negative Überraschungen.
Die kennt man leider immer erst nachher. Deshalb ist Anlegenden immer gut geraten, sich zu einem gewissen Grad darauf einzustellen, dass es anders kommt, als sie denken. Genau deshalb wird nach dem Prinzip der Diversifikation gehandelt. Im Idealfall werden so Hoffnungen, die nicht aufgehen durch Hoffnungen kompensiert, die übertroffen werden. Darauf setzen Anlegende mit ETFs. Die Fonds im Einzelnen sind diversifiziert, und wer sich ein Portfolio unterschiedlicher ETFs zusammenstellt, streut noch über Anlageklassen hinweg.
Diese Vorgehensweise ist auch für die zweite Jahreshälfte angeraten, denn neben Chancen gibt es erhebliche Risiken. Das beste Beispiel dafür ist „The Big Beautiful Bill" der Republikaner, die Steuererleichterungen mit massiven Neuschulden kombiniert. Für die Aktienbörsen dürften die Steuerimpulse erst einmal positiv wirken, die Zeche für die massiven neuen Schulden von über drei Billionen Dollar wird erst später bezahlt, aber sie wird bezahlt. Der schwache Dollar ist dafür ein erstes Warnsignal, ebenso wie die negativen Reaktionen am Anleihemarkt. Hinzu kommt weiterhin die Zollpolitik. Es gibt erste Handelsabkommen, aber in der Tendenz werden ausländische Waren in den USA teurer.
Zieht die Inflation in den USA tatsächlich deutlich an, fliehen immer mehr Investoren aus amerikanischen Staatsanleihen.
Zieht die Inflation in den USA tatsächlich deutlich an, fliehen immer mehr Investoren aus amerikanischen Staatsanleihen. Verstärken sich dadurch die Rezessionstendenzen in der US-Wirtschaft, kann es an den Märkten sehr ungemütlich werden. Europa wird dann vielleicht besser laufen, aber sich nicht völlig abkoppeln können.
Deshalb erscheint es weiterhin sinnvoll, Europa stärker als die USA zu gewichten. Darauf, dass Donald Trump seine wirtschaftliche Chaospolitik ändert, sollte man lieber nicht hoffen.