Makro Research mit Dr. Ulrich Kater | Unwägbarkeiten trotzen
An den Kapitalmärkten macht sich derzeit etwas Entspannung breit. Aktienindizes, Anleiherenditen und Wechselkurse haben sich zuletzt auf ihren Niveaus gut eingerichtet. Natürlich kann daraus nicht abgeleitet werden, dass die schwankungsreichen Zeiten der Vergangenheit angehören. Es ist vielmehr ein wachsames Abwarten: Wie laufen die Verhandlungen während der ausgesetzten US-Zollerhöhungen, und wie können geopolitische Risiken eingefangen werden? Es gibt weiterhin viele Unwägbarkeiten in Verbindung mit der US-Regierung. Nach dem Umbau der globalen Handels-Architektur dürfte die Weltwirtschaft nicht mehr so regelbasiert und arbeitsteilig funktionieren wie zuvor, aber sie wird dennoch wachsen. Die höheren Zölle und die vermehrten Handelshemmnisse streuen also lediglich Sand ins Getriebe der Weltwirtschaft.
Im Vergleich zum Vormonat haben wir in unseren aktuellen Prognosen sogar einen Teil der erwarteten geopolitische Belastungen herausgenommen. Die Aussetzung der extrem hohen Zölle zwischen den USA und China hat dazu geführt, dass wir die Zuwachsrate des globalen Bruttoinlandsprodukts wieder etwas nach oben genommen haben. Die globale Wirtschaftsleistung ist in den vergangenen Jahren real um rund 3 % gewachsen. Dieses und nächstes Jahr wird das Wachstum nur geringfügig schwächer ausfallen. Dies passt auch zu den Inflationsraten, die weitgehend wieder auf die Werte der Notenbankziele gefallen sind. Die Europäische Zentralbank hat im Juni den Einlagensatz auf das neutrale Niveau von 2,0 % gesenkt. Viele Konjunkturindikatoren schwanken derzeit aus mehreren Gründen ungewöhnlich stark, beispielsweise wegen der zollbedingten Vorzieheffekte. Dies erschwert auch die Entscheidungen der Zentralbanken. Speziell die US-Notenbank Fed ist weiter in einer abwartenden Haltung. Da es die vorherrschende Meinung ist, dass die geldpolitische Lockerung überall bei mittelfristig zielkonformer Inflationsentwicklung stattfindet, gibt es entsprechend konstruktive Aussichten für Wertpapieranlagen. Denn Unternehmen und Volkswirtschaften können den Unwägbarkeiten trotzen.
Konjunktur Industrieländer
Deutschland
Das Wachstum des deutschen Bruttoinlandsprodukts im ersten Quartal 2025 wurde spürbar auf 0,4 % im Vorquartalsvergleich aufwärtsrevidiert. In der vorläufigen Schnellschätzung hatte das Statistische Bundesamt die Vorzieheffekte im Zusammenhang mit den US-Zollerhöhungen unterschätzt. US-Importeure hatten vor der Zollerhöhung im April noch kräftig eingekauft. Nun stellt sich die Frage, wann die vorgezogenen Käufe fehlen werden. Noch immer drohen die reziproken Zölle von 20 % ab dem 9. Juli. Insgesamt deuten die Konjunkturindikatoren eine erste zaghafte Belebung der Konjunktur an. Diese ist aber unverändert mit hohen Risiken verbunden.
Prognoserevision: Aufwärtsrevisionen des Bruttoinlandsprodukts.
Euroland
Die europäischen Frühindikatoren deuten eine leichte Abschwächung der Konjunkturdynamik im zweiten Quartal an. Sie zeigen auch, dass die Unterschiede in der wirtschaftlichen Entwicklung zwischen den vier großen EWU-Ländern geringer werden. Das Wachstum der europäischen Wirtschaft stützt die Beschäftigungsentwicklung. Am Arbeitsmarkt gibt es weiterhin keine Anzeichen für eine Abkühlung. Vielmehr herrscht Vollbeschäftigung. Die Arbeitslosenquote lag im April auf dem Allzeittief von 6,2 %. Dabei führt Deutschland mit einer Arbeitslosenquote von 3,6 % den Vergleich unter den vier EWU-Schwergewichten an. Die rote Laterne trägt Spanien mit 10,9 %. Italien (5,9 %) und Frankreich (7,1 %) reihen sich dazwischen ein.
Prognoserevision: Abwärtsrevision der Inflationsprognose.
USA
Am 12. Mai einigten sich die USA mit China über einen geringeren Zollsatz. Statt einer Anhebung seit Jahresbeginn um 145 Prozentpunkte beträgt die Zollerhöhung für aus China importierte Waren nur noch 30 Prozentpunkte. Für unseren Prognoseausblick bedeutet dies einen niedrigeren Inflationsverlauf, weniger Kaufkraftverlust für die privaten Haushalte und über eine dynamischere Konsumaktivität ein stärkeres Wirtschaftswachstum. Zudem ist die Wahrscheinlichkeit einer zeitnahen Rezession gesunken, wenngleich diese weiterhin erhöht ist. Denn nach wie vor belastet die Zollpolitik der US-Regierung die Wirtschaft. Unklar ist weiterhin, wann sich die generelle Zollanhebung in Höhe von 10 Prozentpunkten von Anfang April in den Preisdaten widerspiegeln wird.
Prognoserevision: Aufwärtsrevision des Bruttoinlandsprodukts 2025 und 2026, Abwärtsrevision der Inflationsprognose 2025 und 2026.
Märkte Industrieländer
Europäische Zentralbank / Geldmarkt
In ihren neuen makroökonomischen Projektionen geht die EZB davon aus, dass die globalen Handelskonflikte nur überschaubare Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum im Euroraum haben werden und die Inflation nur vorübergehend unter die Zielmarke von 2 % fallen wird. Darauf aufbauend bezeichnete Präsidentin Lagarde das jetzt erreichte Leitzinsniveau als eine gute Ausgangsposition, um auf unvorhergesehene Entwicklungen reagieren zu können. Sofern der Zollstreit mit den USA über die Sommermonate nicht beigelegt wird, rechnen wir mit noch einer weiteren Senkung des Einlagensatzes auf 1,75 % im September. Danach dürfte sich ein Kompromiss im EZB-Rat herausbilden, die Geldpolitik bis auf Weiteres am unteren Rand des neutralen Bereichs zu belassen. Eine darüber hinausgehende Lockerung würde unseres Erachtens voraussetzen, dass nicht nur sinkende Energiekosten und ein starker Euro zum Rückgang der Inflation beitragen. Vielmehr müsste auch der inländische Preisauftrieb nachlassen, zum Beispiel infolge eines schwächeren Arbeitsmarkts.
Prognoserevision: Senkung des Einlagensatzes nur bis auf 1,75 %.
Rentenmarkt Euroland
Nach den jüngsten Kommentaren der EZB rechnen wir nur noch mit einer Senkung des Einlagensatzes auf 1,75 %, sodass wir bei den Renditen kurzlaufender Bundesanleihen kaum noch Spielraum nach unten sehen. In den längeren Laufzeitbereichen besitzen die Ausgabenpläne für Verteidigung und Infrastruktur einen stärkeren Einfluss. Die Erwartung höherer Neuemissionen spiegelt sich bereits in gestiegenen Laufzeitprämien wider. Als wichtiger erachten wir jedoch die Auswirkungen auf Inflation und Wirtschaftswachstum. Zum einen gehen wir weiterhin nicht von einem signifikanten Anstieg der langfristigen Inflationserwartungen aus. Zum anderen sollten die realen Renditen nicht wesentlich abnehmen, solange die konjunkturellen Abwärtsrisiken begrenzt bleiben. Wir erwarten daher eine Seitwärtsbewegung am langen Ende der Bundkurve.
Prognoserevision: Etwas höhere Renditeniveaus.
Devisenmarkt: EUR-USD
Nach der Zölle-Ankündigung durch Trump am 2. April hat der EUR-USD-Wechselkurs erneut einen großen Sprung nach oben gemacht. Der Euro hat von 1,08 bis auf 1,15 USD aufgewertet, gab aber nach diesem „Überschießen“ bis Anfang Mai auf 1,13 USD etwas nach. So hoch notierte der Wechselkurs zuletzt Anfang 2022. Trumps Zollpolitik schadet vor allem der US-Wirtschaft. Verunsicherung und ein Wiederanstieg der Inflation haben die Wachstumsperspektiven der USA stark eingetrübt. Dies sowie die Vertrauenseinbußen in die US-Politik bekommt der US-Dollar nun deutlich zu spüren. Die Abwertung des US-Dollar dürfte sich mit diesen Argumenten fortsetzen. In Euroland ist wegen der US-Zölle eher ein disinflationäres Umfeld zu erwarten. So wird die EZB (im Gegensatz zur Fed) die erwartete Wachstumsschwäche mit expansiven Leitzinsen begleiten können.
Aktienmarkt Deutschland
Die Anleger durchlebten zuletzt ein Wechselbad der Gefühle. Globale Kursgewinne wurden verstärkt durch die Hoffnung auf einen Waffenstillstand in der Ukraine und durch die Ankündigung der fiskalpolitischen Zeitenwende. Doch Anfang April eskalierte US-Präsident Trump die Situation mit Importzöllen und sorgte für globale Konjunktursorgen und kräftige Kursverluste bei Aktien. Unter dem Druck der Aktien- und Rentenmärkte knickte Trump ein, und deutsche Aktien erholten sich schnell. Dabei half auch eine bisher überwiegend gute Berichtssaison für das erste Quartal. Nun sind neue Rekordhochs einerseits nicht mehr weit. Andererseits scheinen Anleger kurzfristig etwas zu optimistisch zu sein, denn die bereits umgesetzten US-Importzölle, der US-Handelskrieg mit China sowie die Unsicherheit sollten auf der Wirtschaft und somit auf den Unternehmensgewinnen lasten. Zusammen mit der schwierigen Saisonalität spricht vieles für einen schwankungsreichen Seitwärtstrend. Entsprechend sollten Anleger bevorzugt in Schwächephasen kaufen.
Prognoserevision: Senkung der Kursziele.
Unternehmensanleihemarkt Euroland
Die heftige Eskalation im Zollstreit Anfang April hat auch Unternehmensanleihen unter spürbaren Abwärtsdruck gebracht, sodass die Spreads von Kreditindizes aus ihren Seitwärtstrends nach oben ausgebrochen sind. Nach mehrfachen Kurskorrekturen des US-Präsidenten sind die seitdem deutlich erhöhten Risikoprämien aber wieder etwas reduziert worden. Dennoch handeln Kreditindizes oberhalb der Werte zu Jahresbeginn, denn schon jetzt hat der Zollstreit reichlich Konjunkturschaden angerichtet. Weitere Zollerhöhungen stehen drohend im Raum. In den Unternehmensberichten zum ersten Quartal hat sich die Stimmungsabkühlung bisher kaum bemerkbar gemacht. Die zuvor reduzierten Erwartungen konnten teils deutlich übertroffen werden, die Ausblicke für den weiteren Jahresverlauf mussten jedoch spürbar gesenkt werden.
Emerging Markets
Märkte
Die schnelle Rücknahme vieler US-Zölle, die erst am 2. April verkündet worden waren, hat an den Kapitalmärkten Erwartungen geschürt, Trump werde bei der Zollpolitik vor neuen radikalen Schritten zurückschrecken. In der Folge konnten sich Schwellenländeranlagen wieder erholen, nachdem es unmittelbar nach den Ankündigungen vom 2. April zu starken Kursverlusten gekommen war. Es bleibt allerdings festzuhalten, dass sich der Ausblick für die Weltkonjunktur wegen der bislang eingeführten Zölle verschlechtert hat. China ist von den US-Zöllen deutlich stärker getroffen als alle anderen Länder, was auf dem Gewinnausblick chinesischer Unternehmen lastet. Vor dem Hintergrund des hohen Marktgewichts Chinas erscheinen Schwellenländeraktien weiterhin anfällig für Rückschläge. Schwellenländeranleihen profitieren davon, dass sich mit der Eintrübung des globalen Konjunkturausblick und der (mit Ausnahme der USA) nach unten gerichteten Inflationsrisiken der Spielraum für Leitzinssenkungen vergrößert hat. Die Zollunsicherheit spricht für eine anhaltend hohe Wechselkursvolatilität.
Szenarien
Basisszenario (Wahrscheinlichkeit: 65 %)
Weltwirtschaft wächst moderat mit durchschnittlich knapp 3 % pro Jahr.
Deglobalisierung, Demografie und Dekarbonisierung erhöhen perspektivisch den Inflationsdruck und dämpfen das globale Wachstum.
Erratische Politik der US-Regierung mit Zollerhöhungen und Begrenzung der Migration bremst US-Konjunktur.
Geplante umfangreiche Investitionen in Verteidigung und Infrastruktur stärken in Deutschland den konjunkturellen Aufschwung. Euroland-Konjunktur profitiert ebenfalls von höheren Ausgaben für Verteidigung.
Notenbanken senken Leitzinsen in Abhängigkeit von der Inflationsentwicklung und sind dabei wachsam, dass die mittelfristigen Inflationserwartungen im Zielbereich von 2 % verankert bleiben.
Lockerung der Geldpolitik stützt Konjunktur und Kapitalmärkte. Fiskalpolitik bleibt angesichts struktureller Herausforderungen (wie Klimawandel, Sozialversicherungssysteme, Demografie usw.) global eher expansiv. Allgemein ist ein Trend zu höherer Staatsverschuldung zu beobachten.
In China begrenzen der Zollstreit mit den USA, die zunehmende staatliche Regulierung und die Korrektur im Immobiliensektor das Wachstum.
Große handelspolitische Unsicherheit kann jederzeit für erhöhte Schwankungen an den Märkten sorgen.
Aktienmärkte bewegen sich moderat aufwärts mit hohen Schwankungen. Sie profitieren vom globalen Wachstum und vom Umbau der Wirtschaft mit Blick auf Digitalisierung und Nachhaltigkeit sowie von höheren Rüstungsausgaben.
Zinsen dürften tendenziell Inflationsraten nur knapp übertreffen. Kaufkrafterhalt der Geldanlagen funktioniert am besten über breit gestreute Wertpapieranlagen, allerdings unter Inkaufnahme von Wertschwankungen.
Negativszenario (Wahrscheinlichkeit: 25 %)
Einführung massiver Handelsbeschränkungen durch die USA und entsprechende Gegenreaktionen führen zu einem Handelskrieg u. a. mit China, der auch Europa erfasst und das globale Wachstum empfindlich bremst.
Stark steigende Staatsverschuldung löst eine europäische Schuldenkrise aus und birgt das Risiko einer Finanzkrise bzw. eines erneuten Infragestellens der europäischen Währungsunion.
Deutlich höhere Inflationsraten aufgrund von umfassenden protektionistischen Maßnahmen oder von spürbar steigenden Staatsschulden lösen Lohn-Preis-Spirale aus. Notenbanken sehen sich dadurch zu einer nochmaligen Straffung der Geldpolitik gezwungen, die zu einer massiven Rezession führt.
Dramatische Eskalation des Russland-Ukraine-Kriegs oder des militärischen Konflikts im Nahen Osten mit Ausweitung auf weitere Länder. Infrastruktur-Sabotage als Mittel der unkonventionellen Kriegsführung. Deutlich verschärfte Konfrontation zwischen zwei Blöcken mit den USA und China als Leitmächten bzw. die Verschiebung globaler politischer Gewichte zugunsten autoritärer Regimes verringert positive Wachstumswirkungen der Globalisierung.
Positivszenario (Wahrscheinlichkeit: 10 %)
Einfrieren der geo- und handelspolitischen Konflikte führt zu zügiger Beruhigung von Wirtschaft und Finanzmärkten.
Eine beherzte Konsolidierung der öffentlichen Staatshaushalte sowie durchgreifende Strukturreformen stärken das globale Wachstum.
Kräftige Gewinnanstiege der Unternehmen lassen Aktienkurse deutlich steigen und wirken als Triebfeder für die Investitionsdynamik.
Überraschend starke Wachstumsdynamik in den Emerging Markets mit Schubwirkung für globale Wirtschaft.