Kolumne Dr. Bernhard Jünemann |
Ein Sturm im Schuldenglas

Die Aufregung in der deutschen Politik ist groß, seitdem das Bundesverfassungsgericht das zweite Nachtragshaushaltsgesetz 2021 für nichtig erklärt hat. Die Umwidmung von nicht benötigten Geldern zur Bewältigung der Coronakrise in den Klimafonds wurde untersagt. So wogt der Streit, wie die Lücke von mindestens 17 Milliarden Euro für den neuen Haushalt 2024 gefüllt werden kann. Gibt es Steuererhöhungen, werden Sozialleistungen gekürzt, fallen Subventionen für Klimawandel weg oder aber wird die Schuldenbremse zum fünften Mal in Folge ausgesetzt?

Die Börse nimmt diese Auseinandersetzungen bisher erstaunlich gelassen. Der DAX erreichte sogar einen neuen Rekord. Interessieren sich Anleger und Anlegerinnen nicht für Schulden von Unternehmen und Staaten? Ist den Märkten das alles egal, solange nur der Rubel, pardon, der Euro rollt?

Nein, ganz und gar nicht. Aber es kommt auf die besonderen Umstände an. Seit dem 17. Jahrhundert gab es immer wieder an den Börsen Crashs und Kursverwerfungen, die durch übermäßige Schulden ausgelöst wurden, sei es durch die Staaten oder die der Unternehmen. Man denke nur an die berühmt-berüchtigte „Südseespekulation“, die 1720 zusammenbrach. Um die Kosten seiner Schulden zu senken, gewährte der britische Staat der South Sea Company das Monopol, afrikanische Sklaven nach Südamerika zu verkaufen. Es entstand ein unglaublicher Hype, halb Europa spekulierte mit. Doch die South Sea Company machte nie Gewinn, und so stürzte das Kartenhaus zusammen. Alle paar Jahre danach kam es zu ähnlichen Verwerfungen. Der Ökonom David Ricardo formulierte deshalb im 19. Jahrhundert: „Die Staatsverschuldung ist die schrecklichste Geißel, die je zur Plage der Nation erfunden wurde.“

Selbst das 21. Jahrhundert blieb davon nicht verschont, trotz Zentralbanken und Internationalem Währungsfonds. 2001 konnte Argentinien seine Schulden nicht mehr bedienen und ging pleite, weil der Internationale Währungsfonds keine Kredite mehr nachschoss. Auch in den Jahren danach, setzte das Land mehrfach die Zinszahlungen aus. Zuletzt war es Griechenland, das sich durch kreative Buchführung in den Euroclub geschummelt hatte. Als das Land 2010 zahlungsunfähig wurde, bedurfte es jeder Kreativität der Europäischen Zentralbank und des Währungsfonds, die dadurch ausgelöste Finanzkrise in den Griff zu bekommen.

Schuldenkrisen setzen auch Unternehmen immer wieder unter Druck. Im Internethype um das Jahr 2000 herum brachen massenhaft Börsenneulinge zusammen, deren schuldenfinanzierte Investitionen keine Aussicht auf Rendite hatten. Viele Aktienanalysten hatten sich durch die vermeintlich schöne, neue Welt des Internets blenden lassen. Dabei hätte eigentlich jeder, der eine Firma bewertet, wissen müssen, dass extreme Verschuldungsquoten ein Alarmsignal sind.

Vor diesem Hintergrund ist es auf jeden Fall gut, dass es Regeln gibt, um eine übermäßige Verschuldung zu verhindern. Aber ohne Schulden geht es auch nicht. Sie sind nötig, um Wachstum und damit zukünftige Erträge zu finanzieren. Es kommt immer auf das rechte Maß an.

Um einen stabilen Euro zu gewährleisten, wurden schon im Maastricht-Vertrag von 1992 Konvergenzkriterien entwickelt. Die Budgetdefizite der staatlichen Haushalte sollten drei Prozent im Verhältnis zum Bruttoinlandprodukt (BIP) nicht übersteigen und die Schuldenquote allgemein nicht über 60 Prozent liegen. Die Schuldenbremse in Deutschland, die seit 2016 im Grundgesetz steht, soll langfristig die Tragfähigkeit der Haushalte von Bund und Ländern sicherstellen. Die strukturelle Nettokreditaufnahme ist auf 0,35 Prozent des Bruttoinlandsproduktes begrenzt. Davon kann in Notsituationen abgewichen werden.

Davon haben die Bundesregierungen bisher viermal Gebrauch gemacht. Ob das für 2024 ein fünftes Mal nötig wird oder ob massiv gespart werden muss, bewegt die Politik. Aber für die Börsen ist wichtig, dass die Schuldentragfähigkeit nicht unmittelbar gefährdet ist.

Aber sechs der 19 Länder der Eurozone haben schon Schuldenquoten von mehr als 100 Prozent.

Das scheint nach den letzten Prognosen auch so zu sein. Danach erfüllt Deutschland die Maastricht-Kriterien gerade noch. Das Budgetdefizit sollte bei drei Prozent, die Gesamtschuldenquote bei 65 Prozent liegen. Aber sechs der 19 Länder der Eurozone haben schon Schuldenquoten von mehr als 100 Prozent, besonders Italien und Frankreich. Für sie könnte die Bedienung der Verbindlichkeiten wegen der kräftig gestiegenen Zinsen in der Tat schwierig werden. Da liegt die Herausforderung.

Verglichen damit ist die politische Aufregung um die deutschen Schulden eher ein Sturm im Wasserglas. Nochmaliges Aussetzen der Schuldenbremse, Sparen oder Reformieren, wofür selbst die Bundesbank wirbt, das sind alles Alternativen, mit denen die Börse wohl leben kann. So feiert sie lieber das, worauf es ihr vor allem jetzt ankommt: den Rückgang der Inflation und die Hoffnung auf sinkende Zinsen.

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