Ein Jahreswechsel wird immer von Erwartungen, Vorsätzen und Gefühlen
begleitet. Kein Wunder, dass Poeten, Dichter und Schriftsteller sich damit
auseinandersetzen und so manche Lebensweisheit zu Papier bringen. Die kann
auch für die Börse nützlich sein. Deshalb hier Theodor Fontane: „Ein neues
Buch, ein neues Jahr, was werden die Tage bringen? Wird`s werden, wie es immer
war, halb scheitern halb gelingen?“
Für die Börse lässt sich diese Aussage sogar statistisch belegen, bezogen auf
die Trefferquote von Prognosen. Danach sind nach verschiedenen Untersuchungen
die Hälfte der Prognosen richtig. Begrenzt auf die engere Gruppe sogenannter
Experten und Analysten sinkt sie sogar auf unter 50 Prozent. So sind all die
schönen Aussagen für 2023 mit einer Portion Skepsis zu betrachten. Wie immer
an der Börse kann es Überraschungen geben, die niemand vorhergesagt hat – im
negativen wie im positiven Sinne.
Von den negativen gab es in den letzten drei Jahren mehr als genug. Ich
erinnere an die Pandemie, den Krieg in der Ukraine und die Explosion der
Inflation. Diese Ereignisse haben die Börsen ganz schön von der Rolle
gebracht.
Aber genau das ist nun die positive Nachricht. Diese überraschenden Ereignisse
sind eben keine Überraschung mehr. Sie dürften weitgehend in den gefallenen
Kursen enthalten sein. Das eröffnet Chancen für das neue Jahr.
Betrachtet man die Fülle der Prognosen für 2023 so gibt es die klassischen
Wenn-Dann-Aussagen oder die Konditionierung mit den Worten: „Es kommt darauf
an, dass …“ Und die vier Faktoren, auf die es ankommt, sind bekannt:
Ukraine-Krieg, Inflation, Zinspolitik der Notenbanken und Rezession.
Nehmen wir uns diese Faktoren genauer vor. Wie der Ukraine-Krieg sich
weiterentwickelt, ist offen. Im Augenblick sieht es so aus, als wenn die
Ukrainer im Vorteil sind, die Russen erhebliche Rückschläge in ihrem
Angriffskrieg erleiden. Wenn man die russische Propaganda hört, zeichnet sich
noch keine Verhandlungslösung ab. Eskalation, Waffenstillstand oder echte
Verhandlungen – alles ist möglich. Wird der Krieg beendet, wäre das klar ein
positives Signal für die Börsen und die Weltwirtschaft. Eine positive
Überraschung, die wir uns alle wünschen.
Die Inflation ist 2022 hochgeschossen, aber die voreiligen Prognosen, dass sie
sich bald zurückbilden wird, scheinen sich erst 2023 zu bestätigen. Auch die
Energiepreise beginnen sich, dank der Umstrukturierung von Lieferketten, zu
beruhigen. Dennoch gehen die meisten davon aus, dass die Inflation auf einem
vergleichsweise hohen Niveau bleiben wird. Damit kann die Börse jedoch
historisch gesehen ganz gut leben. Inflation dürfte, sofern sie sich nicht
unerwartet stark beschleunigt, kein Belastungsfaktor mehr sein.
Es kommt jedoch auch darauf an, wie sich die Zinsen weiterentwickeln. Die
Notenbanken haben klar kommuniziert, dass sie die Leitzinsen noch ein paar Mal
anheben müssen, um die Inflationserwartungen zu dämpfen. Kommt dieser Prozess
zum Stillstand, oder besser: Wird dieser Stillstand von der Börse erwartet,
dürfte dies den Aktien- und Anleihekursen zugutekommen. Ohnehin sind die
Renditen inzwischen teilweise wieder so hoch, dass es sich lohnt in Renten zu
investieren und angemessene Zinsen bis Endfälligkeit zu kassieren. Außerdem
lässt sich das Risikomanagement wieder leichter gestalten, was die
Bereitschaft erhöht, Chancen bei Aktien trotz Unsicherheit zu nutzen.
Bleibt noch die Rezession. Eine milde Variante ist weitgehend eingepreist. Es
könnte jedoch durchaus 2023 schlechter laufen als bisher erwartet. Doch da die
Börsen vorausdenken, wird die Wirtschaftsentwicklung 2024 für die Kurse 2023
schon relevant sein. Der wichtigste Faktor dafür könnte China werden. Das Land
öffnet sich nach der Umkehr der restriktiven Pandemiepolitik wieder und könnte
dann Ende des Jahres 2023 wieder zu dem werden, was es einmal war: die
Lokomotive der Weltwirtschaft.
Für die Anlagestrategie 2023 spricht also einiges dafür, dass es ein besseres
Jahr als 2022 werden dürfte. Deshalb erscheint es angemessen, weniger defensiv
zu agieren, auch eine teilweise Erholung der Techwerte zu antizipieren. Die
Bewertungen der Aktien sind insgesamt im historischen Vergleich noch günstig.
So wie es jetzt aussieht, wird auch das Dividendenjahr 2023 stabil. Der darauf
setzt, zum Beispiel mit Dividenden-ETFs, könnte doppelt belohnt werden: mit
ordentlichen Ausschüttungen und mit steigenden Kursen.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen 2023, um noch einmal an Theodor Fontane
anzuknüpfen, die Hälfte des guten Gelingens.